Im Bereich der deutschen Nord- und Ostseeküste liegen nach Expertenschätzung 1,6 Millionen Tonnen konventioneller Kriegsmunition auf dem Meeresgrund. «Wenn man sich das als Zug vorstellt, dann ist das ein Zug von Paris bis Moskau», sagte die Direktorin des Kieler Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung (Geomar), Katja Matthes, vor dem Start einer Tagung von mehr als 200 Expertinnen und Experten zur Bergung der Altlasten aus dem Meer in Kiel. Die Zeit dränge, warnte die Wissenschaftlerin. «Die Munitionshüllen rosten immer stärker durch, Schadstoffe treten aus.» Die Stoffe seien krebserregend und erbgutverändernd. «In fast allen Wasserproben können solche Schadstoffe nachgewiesen werden, TNT, aber auch andere.» In der südwestlichen Ostsee seien bereits rund 3.000 Kilogramm als gelöste und giftige Chemikalien freigesetzt worden. «Noch sind die Schadstoffbelastungen unterhalb der Schwellenwerte, aber die Konzentrationen können schnell steigen», warnte Matthes. Schadstoffe würden bereits in Muscheln und Fischen nachgewiesen. «Dort reichert sich dieses TNT an und geht dann in die Nahrungskette über.» Bisher seien zwar keine für den Menschen gesundheitsgefährdende Werte erreicht. Vorhersagen, wann dies der Fall sein könne, seien jedoch schwierig. Ähnlich bewertet Expertin Jennifer Strehse vom Kieler Institut für Toxikologie und Pharmakologie die Situation. Nach jetzigem Stand seien für den Menschen keine Gesundheitsgefahren durch den Verzehr eines belasteten Fisches zu befürchten, so Strehse. «Selbst wenn man jeden Tag sein Leben lang einen belasteten Fisch essen würde.» Der gesamte deutsche Bereich der Ostsee müsse als munitionsbelastet angesehen werden, sagte der Geomar-Geologe Jens Greinert. Hotspots seien nach Kriegsende von den Alliierten ausgewiesene Versenkungsgebiete für Granaten, Torpedos, Bomben, Minen und Patronen. Greinert und sein Team untersuchen regelmäßig die sogenannte Kolberger Heide, ein Versenkungsgebiet nahe Kiel und nur wenige Kilometer vom Ufer entfernt. Dort liege die Munition offen wie ein Schweizer Käse, sagte Matthes. Bei jeder weiteren Kontrolle sehe man mehr Löcher. «Es ist wirklich höchste Zeit und wir sollten es nicht weiter verschleppen.» Greinert geht davon aus, dass die deutschen Ostseegewässer bis Ende 2040 munitionsfrei sein könnten, wenn genügend Geld vorhanden ist. Bis einschließlich Freitag debattierten mehr als 200 Expertinnen und Experten aus 16 Ländern in Kiel auf der Tagung «Munition Clearance Week» darüber, wie man die Kampfstoffe aus dem Meer am besten beseitigt und welche Probleme dabei gelöst werden müssen. Laut Veranstalter geht es auch um den Schutz kritischer Infrastrukturen in Nord- und Ostsee. Im Rahmen einer begleitenden Technologiemesse will die Kieler Werft TKMS eine schwimmende Entsorgungsplattform für Munitionsaltlasten zeigen. Das Bremer Unternehmen Euroatlas zeigt einen autonomen Tauchroboter («Greyshark»), der mit 17 Sensoren ausgestattet ist und detaillierte Unterwasser-Modelle erstellen kann. Der Roboter können nicht nur herausfinden, welche Munition auf dem Grund liege, sondern auch in welchem Zustand sie sich befinde und ob sich Sachen bereits aufgelöst haben, sagte Geschäftsführer Eugen Ciemnyjewski. Die Technik sei auch prädestiniert für den Schutz kritischer Infrastruktur wie Pipelines und könne digitale Kopien davon erstellen. Die Bundesregierung hat für das Sofortprogramm zur Bergung von Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee 100 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Im September hatten drei Bergungsunternehmen im Auftrag des Bundesumweltministeriums damit begonnen, Weltkriegsmunition aus der Lübecker Bucht zu bergen. Durch diese Pilotbergung sollten wichtige Erkenntnisse für die systematische Bergung mit Hilfe einer Plattform gewonnen werden. Weitere Proberäumungen sind vor der Küste Mecklenburg-Vorpommerns geplant. «Diese alte Weltkriegsmunition droht, eine der größten Verschmutzungsquellen in unseren Meeren zu werden», sagte Schleswig-Holsteins Umweltminister Tobias Goldschmidt (Grüne). Es ginge in der politischen Debatte zwar nicht mehr um die Frage, ob die Munition geborgen werden soll. Die neue Bundesregierung müsse sich dieser Aufgabe «mit mehr Wumms» angehen. «Das ist in der Umweltpolitik ein total bekanntes Muster, dass Probleme immer größer werden, sie lange negiert werden, dann werden sie beschrieben, dann wird darüber verhandelt, ob man sie angehen möchte und die Zeit rinnt ins Land.»Küstennahe Munitionhaufen
Bundesregierung stellt Geld zur Verfügung
Umweltminister für mehr «Wumms»
Bildnachweis: © Jana Ulrich/Forschungstauchzentrum CAU Kiel/dpa
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Altmunition in der Ostsee: Warnungen der Wissenschaft
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